DFG fördert Kolleg-Forschungsgruppe „Polyzentrik und Pluralität vormoderner Christentümer“ an der Goethe-Universität
FRANKFURT. Welche Rolle spielen Religionen für die
Organisation von Gesellschaften, für ihre Konflikte und ihren Zusammenhalt?
Diese Frage ist nicht nur politisch hochaktuell, sondern auch relevant für die
historische Forschung. Eine neue, von der DFG geförderte Kolleg-Forschungsgruppe
mit dem Titel „Polyzentrik und Pluralität vormoderner Christentümer“
richtet den Blick auf frühere Formen des Christentums. Sprecherinnen der
Kolleg-Forschungsgruppe sind Birgit Emich, die an der Goethe-Universität die
Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit innehat, und Dorothea Weltecke,
Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität.
Kein Zweifel: Die verschiedenen
Strömungen des Christentums haben die Geschichte Europas und der Welt
mitgestaltet: Sie prägten die Sinnhorizonte und Praktiken der Menschen über
viele Jahrhunderte, sie brachten die Institution der Kirche hervor, die für die
Entwicklung des Rechts und für die Herausbildung weltlicher
Herrschaftsstrukturen von großer Bedeutung war, und sie trugen wesentlich zur
Vernetzung der zunehmend globalen Welt bei.
Wie aber lässt sich diese
Geschichte in ihrer Vielfalt und Dynamik erfassen? Die bisherige Forschung hat
die Zustände des 19. Jahrhunderts mit zentralisierten Großkirchen und einer
Dominanz des europäischen Christentums oftmals auch in die Vergangenheit
rückprojiziert: Christentum wurde demnach meist als etwas Einheitliches und
Europäisches verstanden. Die Kolleg-Forschungsgruppe will nun ihren Blick
stärker auf die titelgebende „Polyzentrik und Pluralität vormoderner
Christentümer“ richten.
Ziel der
Kolleg-Forschungsgruppe ist es, die Vielfalt der Christentümer terminologisch
wie konzeptionell neu zu fassen und ein Modell zu entwerfen, das die
Vorstellungen historischer Dynamik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
grundlegend erweitert. Methodischer Ausgangspunkt ist der Begriff der
„Christentümer“, der den Kirchen, d.h. den Institutionen mit ihren Apparaten
und Hierarchien, zur Seite gestellt wird. Christentümer, so die Definition,
sind Interaktionsgemeinschaften, die sich auf Jesus Christus beziehen und sich
als Gruppe nach außen abgrenzen. Wo sich die Interaktion zwischen den Akteuren
verdichtet, bilden sich Zentren, wo sie ausdünnt, entstehen Grenzen. Diese
Zentren und Grenzen sind in Bewegung, und genau diese Dynamik ist es, mit der
die Christentümer die historische Entwicklung mitgestalten.
Diese Perspektive ermöglicht
es, die historisch wirkmächtigen Kirchen in ihrer historischen Vielfalt
darzustellen und ihnen gleichzeitig einen neuen Platz in der transkulturellen
Geschichte der Christentümer zuzuweisen: Denn indem anders als in
traditionellen kirchengeschichtlichen Ansätzen die Akteure und ihre
Interaktionen in den Mittelpunkt gerückt werden, zeigt sich eine Vielfalt von
Beziehungen und Gemeinsamkeiten, die sich zu Christentümern verdichten und
neben oder auch quer zu den Kirchen verlaufen.
Mit diesem mehrschichtigen
Ansatz können Birgit Emich und Dorothea Weltecke zufolge historische Modelle
entwickelt werden, die postkolonialen Überlegungen Rechnung tragen,
überkonfessionelle Zusammenhänge erfassen und den Beitrag der Christentümer zur
globalen Vernetzung deutlicher als bisher herausarbeiten.
Diesem Anliegen wird sich das Frankfurter Kolleg widmen. Unter der Leitung von Birgit Emich und Dorothea Weltecke werden vier Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gemeinsam mit Fellows aus dem In- und Ausland und aus verschiedenen Disziplinen an der Entwicklung eines neuen Modells für die Geschichte der Christentümer in der Zeit von 700 bis 1800 arbeiten. Das Projekt ist zunächst auf vier Jahre bewilligt und wird mit ca. 3 Millionen Euro gefördert. Es startet mit seinem Fellow-Programm im Oktober 2020.
Informationen: Prof. Dr. Birgit Emich, https://www.geschichte.uni-frankfurt.de/43090711/Emich_Birgit; Prof. Dr. Dorothea Weltecke, https://www.geschichte.uni-frankfurt.de/66156354/Dorothea_Weltecke